Die Bilder

Der Klang

 

 
         

Musikalische Transformationsprozesse in virtuellen Räumen oder «Was hören wir in SOL?»
Joseph Haydn beschließt 1798 ein Oratorium über die Schöpfungsgeschichte zu schreiben. Sein Problem ist der Anfang. Wie soll er mit den Mitteln seiner Zeit etwas musikalisch darstellen, was doch erst durch den Prozeß der Schöpfung selbst informiert wird und damit geordnete und kompositorisch darstellbare Strukturen erhält? Nach vielen Versuchen entscheidet sich Haydn für einen für ihn und seine Zeit revolutionären Weg: er beginnt mit einer Beschreibung des Chaotischen selbst. Er nennt den ersten Satz seines Werkes dann auch programmatisch «Die Vorstellung des Chaos».
Abgesehen von der Vorwegnahme der Idee der Programmmusik, welche erst ein Jahrhundert später erscheinen wird, finden wir hier einen fast vergessenen Voräufer für die Experimente zeitgenössischer Musik, mit verschiedenen Systemen unterschiedlicher Ordnungen und Unordnungen um- zugehen, was speziell die interpretenlose Elektronische - sowie die Computermusik bis heute beschäftigt. Strukturen aus der Natur bishin zum Chaos in Form von mehr oder weniger gelenktem oder echtem Zufall als Rohmaterial der «Lichtwerdung» und inszeniertem Äquivalent zur menschlichen Kreativität, werden als spezielle Form ästhetischer Naturaneignung seit den 50er Jahren als Quelle und Ausgangspunkt für computergestütztes Komponieren verwendet.
Das Beispiel Haydns demonstriert darüberhinaus eindrucksvoll, wie stark sowohl unser sinnliches Erleben als auch unsere ästhetischen Kategorien historisch, sozial und damit gesellschaftlich verortet sind. So wie das musikalische haydnsche Chaos für uns heute recht brav erscheint und kaum noch nachvollziebar ist, ist auch die Debatte um technische Abbildprozesse obwohl überwiegend technisch geführt, nicht nur in bezug auf eine musikalisch-ästhetische Umsetzung stark historisch und kulturell geprägt.
Das Beispiel Haydn mit seinem Versuch eine religiös geprägte Vorstellung von Natur, nämlich die Idee einer göttlichen Schöpfung zu komponieren, führt direkt zu der ähnlich abstrakten Fragestellung des Projektes SOL, welches zwischen Naturwissenschaft und Kunst angesiedelt ist und die Problematik künstlerischer Naturaneignung zeitgemäss problematisiert. In SOL geht es um die Übersetzung von komplexen wissenschaftlichen Messdaten der Sonne in Bilder und Klänge. Die unmittelbare Erkenntnis in der Installation «So klingen also Messdaten der Sonnenaktivität!» provoziert natürlich die Frage nach den dahinterstehenden Übersetzungsprozessen und dem daraus etablierten Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichem «Datamining» samt dessen Exploration in Ton und Bild und dem sinnli- chen musikalisch - ästhetischen Hörerlebnis einer strukturell wie klanglich spannenden Musik.
Die in diesem Bereich bis heute erprobten Verfahren sind so vielseitig wie hinterfragbar. Sie reichen vom Drucken von Daten mit anschliessender Audifkation des Druckergeräusches bishin zu komplizierten mathematischen Übersetzungsverfahren, in denen Daten als abstrakter Zeichenvorrat genommen und mechanisch Parametern wie Instrumenten, Tonhöhen und Lautstärkegraden zugeordnet werden. Lauter Ideen, deren Faszinationskraft bis zu den Anfängen algorithmischer Komposition nach dem zweiten Weltkrieg zurückreichen. Die dort verfolgten Ansätze einer objektiven Ästhetik wiederum erscheinen ideengeschichtlich erstmals in der Renaissance erst recht aber in der Romantik, als die Nachahmung von Natur als das höchste Ziel menschlichen Tuns und eben auch der Künste galt.
Nichtmechanische semantische Übersetzungsprozesse zwischen unterschiedlichen Bezugssystemen – wie hier zwischen Naturwissenschaft und Kunst - können dagegen auf einen neuen gemeinsamen Dritten in diesem Transformationsprozess zurückgreifen: dem Computer als turingsche Universalmaschine, der als prototypisches Simulationsmedium in Naturwissenschaft wie in der Kunst jedwelche Historie und Emotion von Artefakten aller Art zu tilgen in der Lage ist und sie als abstrakte Informationen zur freien Verwendung und damit auch ästhetischen Reinterpretation zur Verfügung stellen kann.
Informationen sind jedoch genau wie «das Digitale» eine abstrahierende Beschreibung für ein Medium, als dessen Form Klänge wie Bilder erscheinen können. Deshalb existiert auch keine digitale Musik, kein digitaler Klang an sich. Was wir nach erfolgter digital - analog Wandlung von Information sinnlich wahrnehmen können, sind Klänge, die digital vorliegende Daten darstellen. Dass Problem in der Beschreibung solcher Ergebnisse ist, dass wir das darstellende Medium und also auch das Digitale nicht unmittelbar beobachten können und uns somit der transformatorische Prozess selbst verborgen bleibt.
Medien, auch digitale, lassen sich nur an dem beobachten, was sie an Formbildungen zulassen oder verhindern. In ihren frühen Zeiten erkennt man an ihnen, was alles noch nicht geht: Bilder offenbaren ihre Pixelstruktur, Musik rauscht und klingt technoid, Szenen sind in bleiches Mondlicht getaucht, Filme ruckeln, Netze lassen auf sich warten. Notgedrungen haben sich Stile gebildet, die mit diesen Formen des Mediums spielen. Im Prozeß der Perfektionierung der Medien verschwinden nach und nach ihre Eigentümlichkeiten, sie werden unsichtbar, verlieren ihre Form, verschwinden allmählich hinter Wahrnehmungsschwellen genauso wie hinter der je nächst folgenden Mediengeneration.
Ist das Medium in unserer Aufmerksamkeitsökonomie dann vollständig verschwunden, bleibt zumindest die Beobachtbarkeit der medialen Formen, in denen uns die Ergebnisse unserer Manipulationen jenseits des A/D-Wandlers erscheinen – also z.B. als Musik. Wobei wir aufgrund der Indifferenz von Informationen gegenüber ihren Formen dann allerdings nicht mehr unterscheiden können, ob das was wir hören oder sehen ursprünglich das Ergebnis einer Rechenoperation, die Informationen eines digitalisierten Bildes, gar eines Textes oder eben komplexe Messdaten eines wissenschaftlichen Beobachtungsprozesses der Sonne sind. Als Informationen unterliegen die vorliegenden (Klang-) Daten einer Logik, welche mittels eines endlichen Vorrates sprachlich diskreter Zeichen, plus deren Verknüpfungsregeln und operationalisierten Verfahren, ihre redundante Austausch- barkeit garantiert.

Dies allerdings um den Preis des Verlustes historisch - ästhetischer Konnotationen sowie all jener Artefakte unter- halb der digitalen Rasterung. Und genau in diesen pragmatischen Vergessenheiten liegt die Chance einer – dann auch ästhetischen – produktiven künstlerischen Wiederaneignung, die sich kompositorisch jungfräulich wie einst Haydn den Informationen zuwenden und sie subjektiv wahrnehmungsgesteuert auf künstlerisch interessante erkennbare Phänomene wie strukturelle Artefakte, Komplexitätsmuster etc. untersuchen kann. Dies ergibt die strukturelle Seite dessen was wir in der Installation hören.
Durch das Diskursverbot digitaler Vergessenskraft jenseits des Realen zwischen zwei Abtastungen ist aber schliesslich auch der operable formalisierte Zugriff auf das Material selbst und damit seine universelle Manipulation möglich. In bezug auf Musik heisst das, dass die vorliegenden Messdaten als Informationen auch direkt in Klänge umgesetzt werden können. Nach Turing ist das grundlegende Arbeitsprinzip des als Universalmaschine beschriebenen «Number Crunchers» das der programmgesteuerten Simulation, die eben auch Klangsyntheseverfahren beinhalten kann. Virtuelle (Klang-) Räume der medialen Formen des Digitalen sind also das Thema in Bezug auf transformatorische Prozesse. Einen solchen virtuellen Klangraum, wie er von Frank Halbig aus den Sonnenmessungen des National Geophysical Data Center komponiert wie transformiert wurde, erleben wir in der Installation SOL als ästhetisch gebrochene und musikalisch reinterpretierte Klanginstallation.
Dabei kann uns als «Leitfaden» für das was wir in der Installation hören, die von Halbig formulierte Idee dienen, die ursprünglichen vier Dimensionen der Sonnenmessungen als kompositorischen Ansatz wieder aufzunehmen und als klangliche Artefakte analog der vier Projektionen auch musikalisch zu etablieren. Die wahrnehmbaren, musikalisch zuordbaren Ebenen folgen demnach der Idee der Inhalte der Messdaten, die die mittlere Strahlung der Sonne, verschiedene Messungen zum Sonnenwind, die Verteilung der Sonnenflecken sowie die des mittleren Magnetfelds der Sonne zum Gegenstand hatten. Durch die Differenz dieser Dopplung der Bezugsysteme als wissenschaftliche Ausgangsbasis wie als ästhetische Transformationsidee gelingt eine dichte und interessante Klanginstallation, die abtrakte Ergebnisse der Sonnenaktivität nicht musikalisch eindimensional abbildet sondern unsere Fähigkeit nutzt, hochkomplexe Sachverhalte sinnlich ästhetisch kommunizieren und verstehen zu können, wozu sich die Musik als genuines künstlerisches Zeitmedium ganz besonders eignet.
Die zuordbaren Klangebenen stellen somit eine musikalische Interpretation der Forschungsideen dar, wie sie uns in einem klavierähnlichen Klang am klarsten begegnen. Hier korreliert die Idee der digitalen Simulation eines klassischen Instrumentes noch am deutlichsten mit der Fragestellung des so musikalisch interpretierten Forschungsergebnisses. Es ist die Anzahl der Sonnenflecken als einziges mit entsprechender Apparatur als reale Natur direkt beobachtbares Phänomen der Sonne, das über einen Zeitraum von 11 Jahren stochastich - regelmässige Muster formt. Entsprechend abstraktere, ins elektroakustische verweisende Klänge lassen somit auf ebensolche Fragestellungen schliessen, was bei aller Verallgemeinerung den komplex abstrahierten Werten der übrigen Datendimensionen entspricht. Die Auswahl der digital vorliegenden und manipulierten Klänge tut ein übriges. Dabei ist eben auch das vorgebliche Klavier ähnlich abstrakt digital erzeugt wie der Rest der Klänge. Nur simuliert es erfolgreich sein instrumentales Vorbild, während die recht abstrakte und mathematisch komplex zusammengefassten Ergebnisse präsentierenden elektronischen Klänge keinem unmittelbaren Simulationsparadigma folgen, sondern gewählte akustische Vorbilder wie z.B. »Streicher« und »Bass« in mehrere Dimensionen so verzerren, dass nur noch eine sehr entfernte Abstraktion erhalten bleibt, die strukturell immer dicht und spannend, klanglich eher in Richtung Minimaltechno verweist. Ein übriges tun räumliche Zuordnungen gemäss den reinterpretierten Dimensionalitäten der zugrundeliegenden Forschungsergebnisse, die den Klang ähnlich spröde und »crispy« wie seine Datenbasis im Raum erscheinen und datenzeitrelevant wandern lassen. Das musikalisch überzeugende Ergebnis dieser Prozesse zeugt so auch von der Notwendigkeit des bewussten kompositorischen Eingriffs und der Behauptung kompositorischer Intelligenz gerade in bezug auf das Sounddesign.
Das zwanzigste Jahrhundert war das der Auseinanderset zung mit Form und Struktur in der Musik als Endpunkt einer langen Geschichte fortschreitender Materialbeherrschung, an dessen Ende mit der Überdetermination serieller Techniken auch das Ende einer bürgerlichen Repräsentationsmusik steht. Mit Techno und artverwandten Stilen werden ebenso starre Formen und musikalische Strukturen von Rock und Pop aufgebrochen, indem sie die strukturellen Elemente der Form auf einen durchgängigen Beat be- schränken, neben und über dem völlige Freiheit in Sound und Struktur herrschen können.
Kompositorisches Bewusstsein kann sich auf dieser Basis in allen Dimensionen entfalten: Klang, Struktur, Form, etc. ohne Bezüge zum klassischen Background, stattdessen in direktem Bezug zu neuen Medien der Produktion, Rezeption und Distribution.
In dieser historischen Situation suchen Florian Grond, Frank Halbig, Jesper Munk Jensen und Thorbjørn Lausten mit SOL nach einer anderen tragfähigen Basis für ästhetische Experimente und finden sie hier in den Naturwissenschaften, die, ähnlich wie die digital produzierte Musik selbst auch, kontingente Datenströme naturhafter Erscheinungen produziert und in diesem Glücksfall Künstlern zur je eigenen Aneignung und medialen Präsentation zur Verfügung gestellt hat.
Also kein «Sieg über die Sonne» wie ein bekannter Buch- titel mit den russischen Suprematisten in bezug auf Techno postuliert, sondern eine engagierte Arbeit die im Kern das Verhältnis von Welt und Kunst in schwierigen Zeiten behandelt.

Michael Harenberg